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Fast 100 Jahre Leben in Russland:
Alexey Artsybushev
2005 Mein Besuch bei Untergrundbewegung anzuge-
Alexey hören, die ein Attentat auf Stalin
geplant hatte. Danach wurde er
Alexey traf ich zum ersten Mal ins lebenslange Exil verbannt und
in seiner Datscha, 80 km südlich lebte in der nördlichen Stadt Inta.
von Moskau. Mein Freund und 1956, zu Chruschtschows Zeiten,
Kollege Andrej Lorgos hatte mich durfte er mit seiner Familie nach
zu diesem Besuch mitgenommen. Moskau zurückkehren und wurde
Er hatte mir Alexey, der damals 86 in gewissem Sinne rehabilitiert.
Jahre alt war, als ein Stück russi-
scher Geschichte angekündigt. Für die Vertreibung aus Diveyevo,
Ich traf einen bescheidenen, of- seinem Heimatort, sieht Alexey aufgeschlossener russischer Aris-
fenen Menschen, dem man seine vor allem den Grund darin, dass er tokrat war.“
Sehstörung, die schon zu seiner aus der Familie der Artsybushevs
Ausmusterung aus dem Militär stammte und sein Großvater A.A. In Diveyevo mit seinem berühm-
vor Beginn des Zweiten Weltkrie- Khostovs (1857 – 1922) der Justiz- ten Kloster wuchs Alexey mit die-
ges geführt hatte, nicht anmerkte. minister unter dem letzten Zaren sem, mit seinem Kloster auf und
Alexey bezeichnete es als ein Wun- war, Nikolay II. Die Artsybushevs setzte sich in späteren Jahren für
der, dass die von den Ärzten pro- waren eine bekannte Adelsfamilie, dessen Wiederaufbau ein. „Es
gnostizierte Erblindung dank der die unter der Hautevolee von St. war Glück, dass ich dort geboren
Gebete nicht eingetreten ist und Petersburg den Ruf genoss: „Alle wurde, Diveyevo kam von innen
er seine Tätigkeit als Künstler über gehen auf den Ball, treiben sich zu mir, von meiner Mutter. Mein
all die Jahre ausführen konnte. in den Salons der Dukes und der Großvater liebte St. Seraphim,
Countesses herum, und die Art- den Gründer, so sehr, dass er den
Alexeys Gesicht trug Spuren ver- sybushevs - gehen in die Kirche. königlichen Dienst verließ. Er
schiedener Etappen der Geschich- Artsybushev in St. Petersburg, der ging in den Ruhestand und zog
te Russlands. Schatten und Licht. lebt wie ein Mönch.” nach Diveyevo und baute dort ein
Licht aufgrund des christlichen großes Haus, in dem ich geboren
Glaubens, der seine ganze Fami- Selbst Lenin hat über seinen wurde, wo wir gelebt haben. Des-
lie prägte, Schatten aufgrund der Großvater geschrieben: „… halb danke ich Gott immer, dass
Unterdrückung nach der Revolu- wenn alle Minister wie Aleksey ich dort geboren wurde.“
tion. A. Khostov wären, dann würde Alexey begleitete ab 1990 nicht
1919 geboren, erlebte er ab dem kein Grund für eine Revolution nur die künstlerische Renovie-
Alter von zwölf Jahren Verfolgun- bestehen. Warum? Nicht weil rung des Klosters (wobei ihm
gen durch das Sowjetsystem, ver- der Minister ein Revolutionär dabei die geistlichen Botschaften
brachte ab 1946 über sechs Jahre war, sondern weil er 1905 seine wichtiger waren), sondern schrieb
in einem Gefangenenlager in Vor- ganzen Ländereien den Bauern auch Briefe rund um die ganze
kuta an der Arktis, weil er ange- gegeben hat. Umsonst, nur das Welt, um dafür Spenden zu sam-
klagt wurde, einer christlichen Landgut behaltend, weil er ein meln. Für ihn besitzt Diveyevo
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